Wertschöpfung in Deutschland: Unter Druck

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Durch demografischen Wandel, Digitalisierung und das Ziel Klimaneutralität befindet sich Deutschlands Wirtschaft inmitten einer großen Transformation. Sein industrieller Kern ist im europäischen Vergleich stark und hat das Land bisher gut getragen.

Gesamtvolumen in Euro, Zahl der Erwerbstätigen in Millionen nach Branchen sowie deren prozentualer Anteil  am geschaffenen Mehrwert der deutschen Wirtschaft (von innen nach außen)
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Daten und Statistiken über die ökonomische Entwicklung in Deutschland sind für Politik, Wirtschaft und Wissenschaft unverzichtbar.

Mehr Wertschöpfung bedeutet, Dingen einen Nutzen zu verleihen oder diesen zu erhöhen. Von der Idee über die Beschaffung der Rohstoffe und die Herstellung bis hin zum Verkauf durchlaufen Produkte viele Glieder einer Wertschöpfungskette. Bis zum Endverbrauch werden sie auf jeder Stufe aufgewertet, sodass das entstehende Produkt zu einem höheren Preis verkauft wird, als seine Entwicklung und Herstellung gekostet haben. Diese Ketten verbinden nicht nur verschiedene Unternehmen und Branchen miteinander, sondern auch Länder und Weltregionen. Häufig verlaufen Wertschöpfungsketten grenzüberschreitend, sodass nur einzelne Glieder innerhalb der Bundesrepublik Deutschland liegen.

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Der Wirtschaftsatlas 2024

Die Klimakrise, schwindende Ressourcen und Umweltverschmutzung fordern einen Wandel. Unternehmen und Banken müssen Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung priorisieren. Neue Gesetze sollen Verschwendung stoppen und die Infrastruktur modernisieren. Der Wirtschaftsatlas 2024 der Heinrich-Böll-Stiftung diskutiert die Maßnahmen und gibt einen Überblick über die Wirtschaftsgeschichte.

 

Traditionell werden drei Sektoren der Wertschöpfung unterschieden. Der erste ist die Urproduktion – Landwirtschaft und Rohstoffgewinnung. Er trägt in Deutschland nur noch 1,2 Prozent zur Bruttowertschöpfung bei. Der sekundäre Sektor produziert Waren und Energie. Hier erzeugen Industrie, Baugewerbe und produzierendes Handwerk knapp 30 Prozent der Wertschöpfung – ein im internationalen Vergleich hoher Anteil. Besonders erfolgreich sind hier nach wie vor die Automobilproduktion, der Nutzfahrzeugbau, die Elektrotechnik, der Maschinenbau und die Chemie. Fast 70 Prozent der deutschen Bruttowertschöpfung entfallen auf Dienstleistungen – den tertiären Sektor. Dazu zählen wirtschaftsnahe Dienstleistungen für Unternehmen und private Haushalte sowie alle öffentlichen Dienstleistungen von der Kinderbetreuung bis zur Bundeswehr.

So, wie die internationale Arbeitsteilung heute funktioniert, können westliche Unternehmen am Anfang und Ende einer Wertschöpfungskette höhere Gewinne erzielen als in den mittleren Phasen von Produktion und Montage, weil dort der Wettbewerb härter ist und die Preise unter Druck stehen. Das hat dazu geführt, dass Forschung und Entwicklung sowie das Design von Produkten in Industrieländern wie Deutschland verbleiben, ebenso wie Markenrechte, Marketing und Vertrieb. Produziert wird dagegen in Ländern wie Bangladesch, Marokko oder Vietnam, wo Arbeitskosten und gewerkschaftliche Organisation niedriger sind. Davon profitiert die deutsche Wirtschaft.

Die Kunst, Wirtschaftspolitik erfolgreich zu  betreiben, liegt in der Abwägung der sechs Ziele, die sich wechselseitig beeinflussen.
Die Kunst, Wirtschaftspolitik erfolgreich zu betreiben, liegt in der Abwägung der sechs Ziele, die sich wechselseitig beeinflussen.

Generell ist eine wertschöpfungsorientierte Wirtschaftsweise insofern sinnvoll, als nur das getan wird, was sich auch rechnet. Denn es werden, vereinfacht gesagt, auf Dauer keine Güter produziert oder Dienstleistungen erbracht, deren Her- und Bereitstellung mehr Ressourcen verschlingt, als ihr Nutzwert rechtfertigt. Wertschöpfung ist aber immer nur dort messbar, wo sie bezahlt wird – also Kosten und Preise bestimmt werden. Bei steuerfinanzierten Leistungen, wie zum Beispiel der öffentlichen Verwaltung und der Bildung, wird sie dagegen nur über die anfallenden Kosten erfasst und ihr Wert dabei häufig unterschätzt. 

Überhaupt nicht erfasst wird Wertschöpfung dort, wo eine Leistung nicht bezahlt wird. Dies betrifft an erster Stelle die Care-Arbeit, die als Sorge, Pflege und Erziehung in Familien und zwischen Menschen unentgeltlich geleistet wird. Bei steuerfinanzierten Leistungen, wie etwa der öffentlichen Verwaltung und Bildung, wird sie aber nur hilfsweise gemessen. Dass Umweltaspekte und Ressourcenverbrauch noch zu oft als billige oder kostenlose Faktoren behandelt werden, verstellt den Blick auf die wahren volkswirtschaftlichen Kosten: Hier wird mehr Wertschöpfung ausgewiesen, als tatsächlich entsteht. Das bisherige Modell, mit dem Wachstum und Bruttoinlandsprodukt gemessen werden, gerät daher von vielen Seiten unter Druck: Internationale Verflechtungen haben Abhängigkeiten geschaffen, die insbesondere mit Blick auf China oder Russland sicherheitspolitisch bedenklich sind, wie die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg zeigen. Außerdem wollen viele Niedriglohnländer aus der Rolle heraus, nur „verlängerte Werkbank“ oder billiger Rohstofflieferant zu sein und ihrerseits die profitableren Glieder der Wertschöpfungsketten in die eigenen Länder holen. China macht es vor: In der Forschung und Entwicklung der Elektromobilität überholt es gerade die deutsche Automobilindustrie. Bei der Künstlichen Intelligenz hat China Deutschland bereits weit hinter sich gelassen.

Auch müssen Wertschöpfungsprozesse verändert werden, um sozial und ökologisch nachhaltig zu sein. So regelt das Lieferkettengesetz seit 2023 die Verantwortung deutscher Unternehmen für die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards in der globalen Arbeitsteilung. Mit Instrumenten wie handelbaren CO2-Zertifikaten oder dem Abbau klimaschädlicher Subventionen kann es gelingen, mehr Wertschöpfung klimaneutral zu gestalten. Der Weg dorthin erfordert viele Investitionen und Innovationen, wie etwa die Umstellung der deutschen Stahlindustrie auf fossilfrei erzeugten Strom und Wasserstoff zu wettbewerbsfähigen Bedingungen.

Der demografische Wandel mit seinem fortschreitenden Fachkräftemangel erfordert zusätzlich große Anstrengungen, um den Wohlstand Deutschlands auch in Zukunft zu sichern. Die Digitalisierung bietet neue Chancen zur Bewältigung dieser Aufgaben. Zuwanderung und der Einsatz Künstlicher Intelligenz können bei kluger politischer Gestaltung Teile der Lösung sein.